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Pöllerhöhe und Großes Gangl spiegeln sich im Gralatisee (Lesachtal)

Im rauen Süden der Schladminger Tauern

Abseits der Renommierziele bieten die Schladminger Tauern viel Ursprünglichkeit. Vor allem im Lungauer Anteil finden alpine Spürnasen stille, anspruchsvolle Gipfeltouren zwischen Wandern und Klettern.
Zu Heiligabend 1786 ahnte noch niemand etwas von dem schrecklichen Ereignis, das sich bald zutragen sollte. Aus allen Richtungen strömten die Leute über die tief verschneiten Wiesen und Felder zur Weihnachtsmette herbei, hin zur Kirche von Mariapfarr. In Mariapfarr wurde übrigens 30 Jahre später der Text von „Stille Nacht“ gedichtet. Doch still würde die Christnacht des Jahres 1786 ganz und gar nicht enden.

 

Lessachtal – Pöllerhöhe

Sommer 2014. Grabesruhe. Und das nur einen guten Kilometer von der berühmten Seenplatte des Klafferkessels entfernt. Nur manchmal durchkreuzt ein brummendes Insekt die Stille. Völlig alleine lümmle ich im Gipfelgras der Pöllerhöhe (2601 m), genau an der Grenze zwischen der Steiermark und dem Lungau. Gegenüber thront der Monarch der Schladminger Tauern, der wuchtige Riesenklotz des Hochgollings. Ringsum schart sich sein Hofstaat: unzählige braun-grüne Tauernberge, ernst, herb, unaufdringlich und still. Wer ihr Wesen ergründen will, muss sich Zeit nehmen, aufmerksam hinsehen, genau hinhören – wie bei uns Menschen. „Das ist der Tauern schönste Eigenheit“, formulierte es der Grafiker, Maler und Bergwanderer Emmerich Schaffran (1883-1962). „Sie sind ruhig und vornehm, ohne übereilte und unnötige Geste […] So gleichen sie dem Menschen von höchster Kultur. Wie diese Menschen aber nur von denen voll geschätzt werden, die sich bemühen, in ihr innerstes Wesen Vertrauen werbend einzudringen, so erschließen sich die Tauernberge erst demjenigen, der sich rastlos bemüht, ihre Wesensart zu erkennen …“ Oft genug entpuppen sich die stillen Zeitgenossen als wesentlich interessanter als die landauf, landab gefeierten Stars. Auch das kennen wir aus dem menschlichen Alltag.

 

Genau deshalb habe ich mich heute vom Lessachtal zur Pöllerhöhe aufgemacht. Ich will die Stillen, Unbekannten, Originellen in den Schladminger Tauern entdecken. Mit diesem Vorsatz bin ich in ihrem Lungauer Anteil gut aufgehoben. Zwar werden die Schladminger Tauern meistens mit der Steiermark assoziiert. Ihre vielleicht interessantesten Teile verbergen sich jedoch südlich des Hauptkammes. Dort streichen wilde Seitenkämme in den Salzburger Lungau hinab, getrennt durch Lessach-, Göriach-, Lignitz- und Weißpriachtal. Alpine Spürnasen, die Stille und Bergsteigen im Urzustand suchen, sind hier richtig. Geschenkt wird ihnen abseits der ausgetretenen Pfade jedoch kaum etwas: Die eine oder andere Stelle verlangt Klettergewandtheit und Schwindelfreiheit. Unmarkierte, manchmal auch weglose Abschnitte stellen sowohl Orientierungsvermögen als auch Trittsicherheit auf die Probe. Und unter 1000 Höhenmetern ist hier nicht viel zu holen. Meist geht’s sogar eher gegen 1500. Und als Lohn der Mühen warten schon gar keine wohlklingenden alpinen Trophäen. Denn nach Großer Barbaraspitze, Kasereck, Graunock, Hundstein oder eben Pöllerhöhe kräht kaum ein Hahn. Sie sind echte Lungauer „No-Names“. Und genau um solche Gipfel soll es hier gehen.

 

Dann plötzlich schien die Erde zusammenzustürzen. Vom alten Karlbauer aus Lintsching, damals noch ein achtjähriger Bursch, ist überliefert: „Als die Andächtigen nach beendetem Gottesdienste in frommer Stimmung die Kirche verließen, wurden sie durch ein donnerähnliches Getöse aufmerksam gemacht, Blitze leuchteten dazwischen, – die schreckliche Erscheinung kam in der Richtung vom Weißbriach- und Lignitz-Winkel.“ Was um Himmels Willen war da los? Egal, wie weit die Kirchgänger die angsterfüllten Augen auch aufrissen, in der tiefschwarzen Nacht war nichts auszunehmen.

 

Lessachtal – Barbaraspitze

Umso glasklarer sehe ich momentan. August 2014. Absolut unbewegt ruht der schattige Lindlsee in seiner Wanne, in seinem dunklen Spiegel steht der Hochgolling Kopf. Hier wird das Seeufer zum Seh-Ufer. Aussichtsreiche Bergseen wie diesen gibt es in den Schladminger Tauern geradezu inflationär, auch am Weg zu jedem unserer Lungauer „No-Names“. Es wäre also wirklich schade, am Weg zu den Gipfeln achtlos an ihnen vorbeizuhasten. Den versteckten Lindlsee, an dem ich gerade sitze, kann man, wiederum vom Lessachtal ausgehend, sogar in eine Vier-Seen-Rundtour einbauen: bis zum See auf einer Forststraße und einem schmalen Steig, beide unmarkiert. Dann weglos, aber einigermaßen einfach zur Kliepscharte. Jenseits ohne Pfad, aber recht ruppig hinunter zu den drei Landschitzseen und von dort auf einem guten, markierten Weg zurück zum Ausgangspunkt Lasshoferalm. LieberhaberInnen stiller, ausgefallener Gipfelziele setzen dieser Runde mit der Großen Barbaraspitze (2726 m) das Sahnehäubchen auf. Sie stellt allerdings schon deutlich höhere Anforderungen als etwa die Pöllerhöhe. Wer die Kletterstellen (I-II) an ihrem Nordwestgrat jedoch souverän meistert, darf sich sogar noch den kurzen Übergang zum Roteck (2742 m) zutrauen – und hat damit auf einen Schlag den dritt- und den sechsthöchsten Gipfel der Schladminger Tauern eingeheimst.

 

In all dem fürchterlichen Tosen, Donnern, Poltern und Beben machten die abenteuerlichsten Gerüchte die Runde: „Da glaubten Viele mit Bangen, es sei der jüngste Gerichtstag im Anzuge; andere meinten wieder, es seien Kanonen ganz eigener Art, welche von da herüber donnern, um die Geburt Christi dem weiten Thale zu verkünden; andere meinten, es könnte ein Bergsturz sein und man müsse abwarten.“

 

Göriachtal - Kasereck

August 2012 im benachbarten Göriachtal: Hier haben sich die Berge definitiv in Bewegung gesetzt. Mit fasziniertem Schaudern starre ich auf das Durcheinander im Kasergraben: tonnenschwere Felstrümmer, zerschredderte Baumstämme und Schlamm, Schlamm, Schlamm. Alles meterhoch übereinandergetürmt. Vor wenigen Tagen ließen sintflutartige Regenfälle in kürzester Zeit zehn bis fünfzehn Muren im Göriachtal abgehen. Über dem Kasergraben ragt ungerührt das Kasereck (2740 m) auf, als sei nichts passiert. Obwohl es als imposante Pyramide auch optisch punktet, ist das Kasereck ein echter Lungauer „No-Name“ geblieben – zumindest für die Auswärtigen. Die Lungauer wissen schon um seine Qualitäten.

Vom Göriachtal zieht ein schmaler Steig zum Piendlsee, so steil, dass es einen regelrecht nach oben katapultiert. Der folgende Zustieg zum Südwestgrat kann zur unangenehmsten Passage der ganzen Tour werden. Neben dem Grat führt schließlich eine Rinne bis zum Gipfel, immer wieder in leichter Kletterei, aber nicht übermäßig ausgesetzt. Klettergewandte, vorsichtige Berggeher dürfen sich das durchaus zutrauen.

 

Nach einer Nacht, die die Menschen in Angst und Schrecken versetzt hatte, verstummte das Dröhnen und Beben. Im Tageslicht zeigten sich riesige dunkle Staubwolken, und fauliger Schwefelgestank kroch noch Tage später in die Nasen der Lungauer. War also doch der Leibhaftige beteiligt? „Nach wenigen Tagen wagten sich die Kühneren hinein in die Gegend, aus welcher das noch räthselhafte mitternächtliche Getöse vernommen wurde. Und sie lösten das Räthsel – die oberste Felsenkuppe des Hundssteines war eingestürzt.“ Der gewaltige Bergsturz hatte insbesondere im Lignitztal alles zermalmt, was ihm in den Weg gekommen war. Wo im Sommer zuvor noch Kühe auf blühenden Almen geweidet hatten, befand sich nun ein Chaos aus Fels und Schlamm.

 

Lignitztal – Graunock

Frühsommer 2014. Ein Talhatscher, wie er im Buche steht. Das Lignitztal zieht sich gehörig. Der Tälerbus fährt seit einigen Jahren nicht mehr ins Tal. Das hat aber auch Vorteile: Das Lignitztal ist das ursprünglichste, stillste an der Südseite der Schladminger Tauern geblieben. Die Gegenleistung fürs Kilometerabspulen: ein munterer Almbach und lichte Lärchenwälder, die für den Herbst leuchtende Farbenspiele versprechen. Hinten im Talschluss dann der Lignitzsee, umstanden von leuchtendem Almrausch und Enzian, untermalt von Kuhgebimmel. Tauernidylle pur.

 

Tauernidylle? Im Lignitztal? Ja, durchaus! Wo Ignaz von Kürsinger, einer der Erstbesteiger des Großvenedigers, gut sechzig Jahre nach dem Hundstein-Bergsturz noch „gräulichste Verwüstung und Zerstörung“ vorfand, ist inzwischen einiges an Gras über die Sache gewachsen. Wortwörtlich. Wer aber genau hinsieht, kann immer noch Spuren der Verwüstung ausmachen: Die Abrissnische am Hundstein ist nach wie vor erkennbar. Von dort sind damals rund eine Million Kubikmeter auf die nordöstlich liegende Alm gestürzt, die bis zu 50 m hoch verschüttet wurde. Seitdem heißt die Gegend treffend „Ödkar“ – heute noch erkennbar an den verstreuten Riesenblöcken. Mit der Gesamtenergie des Bergsturzes hätte man, so haben findige Leute errechnet, die nächsten 2100 Jahre durchgehend eine 100-Watt-Glühbirne betreiben können. Dumm nur, dass ihr eine EU-Verordnung schon gut 230 Jahre später den Garaus machte.

Wer die Tour ins Lignitztal mit einem echten Lungauer „No-Name“ krönen will, steigt vom Lignitzsee am besten auf den Graunock (2477 m). Süd- und Südwestgrat erlauben eine anregende, erstaunlich unkomplizierte Überschreitung. Gut so. Es muss beim Bergsteigen ja nicht immer alles hart erkämpft sein.

 

Weißpriachtal – Hundstein

Wer jetzt Lust bekommen hat, sich den baufälligen Hundstein (2614 m) ganz aus der Nähe anzusehen, wechselt am besten ins Weißpriachtal und nimmt dort dessen Normalweg unter die Schuhsohlen. Eines der Hauptkriterien ist, wie schon beim Lindlsee, sich gleich nach dem Ausgangspunkt mangels Markierung richtig „einzufädeln“. Die folgenden knapp 1500 Höhenmeter bieten einen ähnlich steilen Auftakt wie am Kasereck, darüber dann mehrere Seen und Lacken, schließlich ein anregendes Finale mit einigen Kraxelstellen. Und jede Menge Stille. Echtes Lungauer-„No-Name“-Ambiente also auch hier.

Aber ist das nicht viel zu gefährlich, direkt hinauf auf den polternden Hundstein? Nun, soweit man hört, hat er sich die letzten 229 Jahre nicht mehr sonderlich bewegt.

 

Text und Fotos: Uwe Grinzinger, Alpinjournalist & -fotograf, www.agentur-bergwerk.at

Weitere Informationen

Kontakt

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Tourentipps

Für alle 5 Touren gilt: sehr gute Kondition!

Pöllerhöhe (2601 m)

Lessachtal-Lasshoferalm–Zwerfenbergsee–Lungauer Klaffersee–Steilflanke in die Scharte nordwestlich des Gipfels–NW-Flanke–Gipfel

Abstieg: wie Aufstieg

Vorwiegend Gehgelände, Trittsicherheit erforderlich; bis hinter den Lungauer Klaffersee markiert, danach unmarkiert und weglos

Aufstieg: ca. 4,5 Std., Abstieg: ca. 3 Std., ca. 1330 Hm ­¯

Tipp: von der Pöllerhöhe aufs Große Gangl (2602 m), ca. 20 min

 

Große Barbaraspitze (2726 m)

Lessachtal-Lasshoferalm–Landschitz-Wasserfall–Forststraße zur Lindlalm–Steig zum Lindlsee–Kliepscharte–NW-Grat–Gipfel

Abstieg: wie Aufstieg.

Am NW-Grat teilweise Kletterei (I-II), sonst Gehgelände; Trittsicherheit, Schwindelfreiheit und Orientierungsvermögen nötig; Markierung nur bis hinter den Landschitz-Wasserfall; ab Lindlsee weglos

Aufstieg: ca. 5 Std., Abstieg: ca. 3 Std., ca. 1460 Hm ­¯

Tipp: vom Gipfel aufs Roteck (2742 m), I-II, ca. 15 min

Variante: Abstieg von der Kliepscharte über die Landschitzseen

 

Kasereck (2740 m)

Göriachtal–Piendlsee–SW-Grat–Rinne–Gipfel

Abstieg: wie Aufstieg

Beim Zustieg zum SW-Grat und in der Rinne teilweise Kletterei (I-II), sonst Gehgelände; Trittsicherheit und Schwindelfreiheit erforderlich; bis Piendlsee gut markiert, dann fallweise rote Punktmarkierungen

Aufstieg: ca. 4,5 Std., Abstieg: ca. 2,75 Std., ca. 1425 Hm ­¯

 

Graunock (2477 m)

Lignitztal-Vordere Zehnerhütte–Hintere Lignitzalm–Lignitzsee–S-Grat–Gipfel

Abstieg: SW-Grat–Lignitzsee–weiter wie Aufstieg

Bis Lignitzsee einfach und markiert, dann unmarkiert und weglos, nur kurze Kletterstellen (I); Trittsicherheit erforderlich

Aufstieg: ca. 4,25 Std., Abstieg: ca. 3 Std., ca. 1090 Hm ­¯

 

Hundstein (2614 m)

Weißpriachtal-Diktlerhütte–Seekreuz–Steig zur Granierhütte–Graniersee–oberster S-Grat–Gipfel

Abstieg: wie Aufstieg

Vorwiegend Gehgelände, im Gipfelbereich teilweise Kletterstellen (I); Trittsicherheit und Orientierungsvermögen (für den Steig zur Granieralm) erforderlich; durchgehend unmarkiert, ab Granierkar weglos

Aufstieg: ca. 5 Std., Abstieg: ca. 3,75 Std., ca. 1470 Hm ­¯

 

 

Karten

ÖK 1 : 25000V, Nr. 3224-West

Für den Hundstein zusätzlich Nr. 3223-Ost, für die Große Barbaraspitze zusätzlich Nr. 3224-Ost

 

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