Chamonix

Von schottischen Verhältnissen, Croissants und der Jagd nach perfekten Rissen


Es ist August, Patrick und ich sind unterwegs nach Chamonix. Der Kopf ist voller Pläne, wir hoffen darauf,das 4-Tage Schönwetterfenster für eine der großen Wände in Chamonix nutzen zu können.


In dem europäischen Mekka des Alpinismus angekommen, haben wir nach dem obligatorischen Boulangerie-Besuch schnell unsere Bäuche mit französischen Köstlichkeiten und unsere Rucksäcke mit Fels-, Eis- und Biwakausrüstung gefüllt. Unser erstes Ziel ist eine Akklimatisationstour an der Südwand der Pointe Lachenal – wir wählen die „Contamine“ mit einem anspruchsvolleren Direkteinstieg (300m, 6b, TD+). Schnell finden wir uns in herrlichen, steilen Rissen wieder und genießen den goldenen Chamonixgranit in vollen Zügen.


Für den Nachmittag ist schlechteres Wetter gemeldet, und der Bericht hält was er verspricht. In den letzen Seillängen tanzen die ersten Schneeflocken vom Himmel und begleiten uns bis zum Gipfel. Die Temperaturen sinken auf unter null Grad und schnell verwandelt sich die sommerliche Südwandkulisse in eine neblige Winterlandschaft und gestaltet unseren Weg zum Biwak unterm Grand Capucin in eine mühselige Navigation durch Gletscherspalten und Neuschnee.


Als wir es uns endlich in unserem minimalistischen Expeditionszelt bequem machen können, die kalten Zehen tief in den Schlafsäcken vergraben und uns mit Tütennahrung aufwärmen, ist bereits einiges an Schnee gefallen. Die ganze Nacht schneit es weiter, doch wir hoffen weiterhin darauf am nächsten Tag in die „Bonatti“ in der Ostwand des Grand Capucin einsteigen zu können. Der Morgen ist winterlich und ernüchternd – als der Nebel einen Moment den Blick auf den Grand Capucin freigibt, präsentiert sich die Wand vereist und mit schottischer Schneeauflage. Schweren Herzens kehren wir nach Chamonix zurück und haben schnell Plan B zur Hand.


Am folgenden Tag schultern wir früh unsere Rucksäcke, die wieder bis obenhin prall gefüllt sind – um gegen Kälte und Ermüdung gewappnet zu sein, haben wir diesmal einen ganzen Sack hausgemachter Quiches dabei.


Nach 2 ½ Stunden sind wir bei unserem Biwakplatz angelangt – auf einem traumhaften Felsplateau, direkt unter den Granitnadeln von Envers des Aiguilles, schlagen wir unser Zelt auf – mit Blick auf die Nordwand der Grandes Jorasses, den Dent du Géant und die Dru.


Envers des Aiguilles bietet feinstes Granitklettern für ein breites Publikum – der kurze Zustieg von der Envershütte, überschaubare Gletscher und Touren in allen Längen und mit guten Rückzugsmöglichkeiten locken viele Kletterer an. Doch zwischen den Touren mit Plaisircharakter verstecken sich fast unbemerkt einige der schönsten und steilsten Alpinklassiker von Chamonix.
Unsere erste Tour führt durch die 450m hohe Ostwand der Aiguille du Roc. Der bekannte Erschliesser und Führerautor Michel Piola hat mit der „Pedro Polar“ (450m, 6c, ED) ein Meisterwerk erschaffen und wieder einmal sein Gespür für ästhetische Linien bewiesen. Traumhafte Handrisse wechseln sich mit anhaltenden Fingerrissen ab, bis zum Gipfel bleibt die Tour fordernd und homogen.


Nach einem langen, genialen Tag wartet unser nächstes Projekt auf uns. Wenn man die Blöcke Richtung Requinhütte quert, an den Pointes des Natillons mit vielen beliebten Envers - Klassikern vorbei, und den zerklüfteten Envers de Blatière Gletscher betritt, wird es plötzlich still. Unser Weg führt uns bis in den obersten, verstecktesten Winkel des Gletschers. Erst als wir kurz davor stehen, können wir unsere Wand sehen, die glatte und steile Südwand der Aiguille du Fou.


1963 wurde die „Voie Américaine“ (350m, 6c+/A1, ED + 400m, 50°, 4c) von den Yosemite-Locals Tom Frost, Stewart Fluton, John Jarlin und Gary Hemming eröffnet. Die Franzosen hatten ebenfalls Ambitionen die Wand zu durchsteigen und bereits Versuche gestartet, die Amerikaner waren jedoch mit ihrer Bigwalltechnik deutlich im Vorteil und kletterten im Juli in insgesamt drei Tagen als Erste durch die Südwand der „Nadel der Verrückten“.
Normalerweise steigt man über das Couloir du Fou zur Wand auf – als wir am Bergschrund ankommen, ist dieser weit offen und das Couloir verschwunden. Der „Zustieg“ nimmt etwas mehr Zeit als geplant in Anspruch und endlich können wir mit der Kletterei beginnen. Schnell wird klar, wo die Amerikaner ihre Stärken ausspielen konnten. Die steile Einstiegsverschneidung, die luftige A1 Länge (frei 7c+) und der diagonale, feine Riss der ersten Seillängen lassen Erinnerungen an die Bigwalls des Yosemite wach werden. Steil und anhaltend folgt die Route einem abwechslungsreichen Risssystem – vom Fingerriss bis zum Offwidth und vom Lieback bis zum Piaz ist alles dabei. Einige Längen vor dem Gipfel bringt uns ein Blick auf die Uhr dazu abzuseilen – der Rückweg wird sich durch die schwierigen Zustiegsbedingungen deutlich verlängern.


Nicht mal 24 Stunden später sitzen wir mit Baguette, Käse und Croissants im Auto und lassen die vielen schönen Klettermeter Revue passieren. Vorerst geht’s wieder nach Hause, doch wir werden wiederkommen – schließlich wartet eine Wand darauf, zu Ende geklettert zu werden!

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