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Zwischen Wandern und Klettern am Wilden Kaiser

Wo hört das Wandern auf, und wo fängt das Klettern an? Auf anspruchsvollen Gipfeltouren an der Südseite des Wilden Kaisers lässt sich dieser Grenzbereich Schritt für Schritt ausloten.

Der Schreck kommt erst etwas später. Erst als das infernalische Getöse etwas abklingt. Als der Schwefelgeruch zerborstener Felsen in die Nase steigt und Gesteinsstaub in jede Rocktasche kriecht. Denn soeben hat der Wilde Kaiser einen guten Teil seines Felsmantels abgeworfen. Direkt unter den Schuhsohlen Ludwig Purtschellers, des rastlosen Turnlehrers und Alpenerschließers, der sich an die Reste des Karlspitze-Südwestgrates klammert.

Purtscheller schüttelt den Schreck aus den Gliedern und steigt mit eisernem Willen weiter. Schließlich schreiben wir das Jahr 1883 – und da müssen die Helden der Berge vor allem eines sein: hart und kämpferisch. Streng zu sich selbst, leidensfähig auf Gewaltmärschen, unbeugsam in Kälte und Schnee, in der Gefahr kaltblütig – „g’standene Mannsbilder“ halt. Zumindest inszenieren sie sich selbst so – um nur ja nicht in den Verdacht zu kommen, für Verweichlichung oder Gefühlsduselei anfällig zu sein. Verbissen rauft sich Purtscheller also über der gähnenden Tiefe empor, bis es nicht mehr höher geht. Er hat die Vordere Karlspitze niedergerungen.

 

„Weder-noch-Touren“

Für uns Durchschnittsalpinistinnen und -alpinisten der Gegenwart drängt sich jedoch die Frage auf: Gibt’s an den lotrechten Kaisergipfeln überhaupt etwas zu holen, so ganz ohne Seil und Karabiner? Mit vernünftigem Risikomanagement statt haarsträubendem Wagemut à la Purtscheller? Immerhin eröffnet ein Internet-Blog lapidar, aber treffend: „Der Wilde Kaiser ist bekannt für hellen Fels, markante Türme und für viele verunglückte Bergsteiger.“ Zahllose starke Männer haben diese Diva unter den Klettergebirgen heftig umworben, viele davon sind ganz furchtbar abgeblitzt. Andere haben in den Kaiserwänden die Kletterschwierigkeiten so lange nach oben geschraubt, bis sie die Skala sprengten. Dülfer, Schmitt, Kiene, Piaz, Fiechtl, Preuß, Buhl, Glowacz – ein Who’s who der Klettergeschichte, das heute noch wie Musik in den Ohren klingt – zumindest in jenen, über denen öfters ein Helm sitzt.

Nun, mit unserem Vorsatz, auch als Nichtkletterinnen/-kletterer auf lohnende Gipfel vorzudringen, landen wir früher oder später bei den typischen „Weder-noch-Touren“: weder Wanderungen noch Kletterrouten. Reine Wanderinnen/Wanderer verlassen hier schnell ihre Komfortzone: zu schwer, zu heikel. „Echte“ Kletterinnen/Kletterer rümpfen ebenfalls die Nase. Sie ziehen sich lieber in bombenfestem, eingebohrtem Wettersteinkalk die Fingerkuppen lang. Normalwege mit brüchigen Schrofen überlassen sie den „Alpin-Normalos“, die sich irgendwo in der Grauzone zwischen extremem Bergwandern und leichtem Klettern bewegen. Und weil solch „klassisches Bergsteigen“ heute immer weniger AnhängerInnen findet, sind die wenigen Restexemplare oft unter sich – allerdings nur in den Gipfelabschnitten.

 

Im Niemandsland

Denn dass es hier im Wilden Kaiser imposante Natur zu bestaunen gibt, wissen mittlerweile viele. Seine spektakuläre Zackenkrone schindet schließlich nicht erst Eindruck, seit der „Bergdoktor“ dort medizinisch-zwischenmenschlich ordiniert. Dementsprechend herrscht an schönen Wochenenden Gedränge, speziell im Erdgeschoss und Hochparterre der kaiserlichen Gemächer. Ein Geheimtipp ist der Kaiser also sicher nicht mehr. Misanthropen fahren besser nach Feuerland oder Kamtschatka.

Es gibt aber auch noch stille Winkel. Wer sie sucht, muss einfach höher hinauf – und weg von den prominenten Gipfeln, wie etwa der Ellmauer Halt, dem höchsten Kaiser-Gipfel. Nicht umsonst ist dort der Fels am Normalweg stellenweise poliert wie ein Kinderhintern frisch nach dem Service. Abseits dieser Modeziele warten auf der Kaiser-Südseite aber durchaus Touren, die ein Mindestmaß an Ruhe versprechen. Und zwar im Niemandsland zwischen Wandern und Klettern.

 

Exklusive „Normalwege“

Diese „Weder-noch-Touren“ haben erstaunlich viel gemeinsam. Erstens: wenig prickelnde Gipfelnamen. Wer in sozialen Netzwerken Tourenberichte zu Hackenköpfen oder Karlspitzen postet, läuft kaum Gefahr, mit „Gefällt-mir“-Meldungen zugeschüttet zu werden. Zweitens: noble Zurückhaltung. Der Großteil dieser Gipfelanstiege wird in Führerliteratur und Landkarten glatt unterschlagen, obwohl viele zumindest mit Farbklecksen markiert sind. Drittens: alles eine Frage der Perspektive! Wenngleich man am Fuß mächtiger Felsfluchten ernsthaft daran zweifelt, dass sich hier ein halbwegs einfacher Anstieg durchschummelt, löst sich das Ganze bei näherer Betrachtung doch in ziemliches Wohlgefallen auf. Viertens: Wer Hirn hat, schützt es. Ein Helm ist zumindest für einige dieser Touren absolut kein Luxus. Zwar sind die Unbemützten augenscheinlich in der Überzahl, ihre schiefen Blicke tun aber weniger weh als ein Loch in der Schädeldecke. Und schließlich fünftens: Drum prüfe, wer sich nicht anbindet! Auch wenn „Normalwege“ recht harmlos klingt: Dies sind keine Wandertouren mehr, obwohl sie Routinierte in der Regel noch seilfrei begehen! Bei Nässe oder Schnee sind sie sowieso tabu. Wer schlau ist, lässt den gewittrigen Sommer aus und rückt erst im Herbst bei stabilem Hochdruckwetter an. Bei Kaiserwetter eben.

 

Regalpwand

Die Regalpwand (2208 m), auch Regalmwand genannt: Eine wirklich feine Tour, noch dazu die vermutlich leichteste der hier vorgestellten. Und eine aussichtsreiche. Denn, so notierte bereits Ludwig Purtscheller, „in bezug auf prächtige landschaftliche Blicke, sowohl gegen die Ebene als auch gegen das Centralgebirge, ist das Kaisergebirge unübertroffen“. Die Schlüsselstelle ist eine kleine, gutgriffige Felsstufe kurz unter dem Gipfel. Sie lässt sich im Normalfall leicht und ungesichert überwinden. Kurzum: Die ideale Einstiegsdroge für die Kaiser-Normalwege.

 

Hackenköpfe

Wer die drei Hackenköpfe im Westkaiser überschreiten will, muss zuerst über die Südflanke des Scheffauers (2111 m) bis knapp unter dessen Gipfel aufsteigen – bis hierher alles andere als ein Geheimtipp. Immerhin aber der vermutlich am frühesten „touristisch“ bestiegene Gipfel im Wilden Kaiser – am 17. August 1794 von einer Dreierpartie mit acht Beinen: Hilfspriester Franz Berndorffer mit dem Uhrmacher von Schwoich und dessen Jagdhund. Eine tiefe Kluft überwanden die beiden springend. Den Hund warfen sie dort, vermutlich ungefragt, kurzerhand hinüber.

Zu den drei Hackenköpfen hin wird’s schlagartig ruhiger. Die Schlüsselstelle gleich zu Beginn erfordert beherztes Zupacken. Danach geht es (fast) immer genussvoll und aussichtsreich am Grat entlang; gerade so schwierig, dass es auch ohne Seilsicherung noch Spaß macht. Seit Neuestem erleichtern Farbpunkte die Routenfindung. Wer danach noch unausgelastet ist, kann auch Kopfkraxn (2178 m) und Sonneck (2260 m) aufs Haupt steigen und von dort auf eine absolut großartige lange Tour mit bis zu sechs Gipfeln zurückblicken.

 

Westliche Hochgrubachspitze

1881 standen auf der Westlichen Hochgrubachspitze (2277 m) erstmalig Gottfried Merzbacher, Münchner Pelzkaufmann, und Michael Soyer, genannt Steinackerer, Schafhirte, Knecht und später Bergführer. Alpinen Ruhm heimsten die beiden vor allem aber ein, weil sie auch die ersten am Totenkirchl (2190 m) waren. Und das war bei Soyers Lebenswandel beileibe nicht selbstverständlich: „Gedrungen von Gestalt, sehnig, ungeschlacht, mit rotblondem Haar und kleinem struppigen Schnurrbart, kühner Nase und kleinen blauen, schlau blinzelnden Augen, von denen das eine halb eingedrückt war, als Folge einer der mit seinem Leben unzertrennlich verbundenen Raufereien. Auch sonst war sein Gesicht von zahlreichen aus solchen Händeln stammenden Ehrenzeichen durchfurcht. […] Wenn an den Samstagen die Touristen in Ellmau nach ihm fragten, hämmerte er meist die Spielkarten auf den Wirtstisch und soff und soff. Erst wollte der Steinackerer seinen Samstagsrausch, dann erst war er für eine Sonntagstour zu sprechen“, berichten Merzbacher und Kaiser-Chronist Fritz Schmitt.

Sichere Steilgelände-Schleicher können am glatten Haifischzahn der Westlichen Hochgrubachspitze ihren Meisterbrief lösen. Wer nicht dazu zählt, möge sich tunlichst fernhalten, da es für jeden, so Purtscheller, „im Hochgebirge nicht nur Dinge giebt, die man nicht machen kann, sondern auch solche, die man nicht machen soll“. Schon am heiklen Steilgras-Steiglein des Schrofenvorbaus würde ein Ausgleiten jedenfalls wesentlich weiter unten und fatal enden. Auch im weiteren Verlauf des Anstiegs, in Rinnen, auf Felsstufen (I-II) und im Geröll, sollte man ganz genau wissen, was man tut. Und runter muss man hier auch wieder!

 

Karlspitzen

Nicht der Vorname, sondern ein kleines eingelagertes Kar, das Kufsteiner Karl, hat den Karlspitzen (2260 m, 2281 m) deren Namen beschert. Speziell die vordere der beiden ist wirklich nicht zu übersehen: Wie ein überdimensionierter Spaten ist ihre mächtige Südwand in den Schotter gerammt. Sie bildet den westlichen „Türstock“ des Ellmauer Tors, im Herzen des Wilden Kaisers. Obwohl tausendfach fotografiert, wird sie kaum bestiegen. Zwar muss heute niemand mehr die schauerliche Route eines Ludwig Purtschellers auf dem Südwestgrat wiederholen, weil sich der Normalweg auf beide Gipfel auf der östlichen Seite des Berges befindet. Dennoch stellt dieser Normalweg die höchsten Anforderungen unter den hier präsentierten Touren – zusammen mit jenem auf die Westliche Hochgrubachspitze: Es erwartet uns eine recht ausgesetzte, größtenteils freie Kletterei (bis II), direkt vorbei am „Flimmerkisten-Dach“, dem größten Kaiser-Felsdach, das 17 m auslädt. Erstmalig erstiegen wurde es im August 1967 bei Dreharbeiten zu einem Bergfilm.

 

Wer sich am Ellmauer Tor vom Mainstream verabschiedet, sollte übrigens eine halbwegs gute Figur machen. Denn der Karlspitzen-Normalweg liegt genau in der Auslage – für jene Prozession, die sich gegenüber auf der Zickzackspur zur Hinteren Goinger Halt emporschiebt. So manchen mehr oder weniger förderlichen Kommentar zum eigenen Tun wird es sicher von drüben herüberwehen.

 

Am Gipfel empfängt uns die große Aussicht. „Man erlasse es mir, über die näheren und ferneren landschaftlichen Bilder ausführlich zu sprechen“, ziert sich Ludwig Purtscheller vorerst noch. Um dann erst recht fortzufahren: „Es ist ein großartiger, prächtiger Rahmen. Hier die Ebene und das Alpenvorland mit seinen langgedehnten, waldernsten Hügelwellen, den irisierenden Spiegelflächen der Seen und den reichen, fruchtbaren Kulturen; dort die große Welt der Centralalpen, mit den Irrgewinden ihrer Thäler und Alpenmatten, mit ihren opalschimmernden Hörnern, Spitzen und erhabenen Firnmeeren.“ Man mag sich gar nicht ausmalen, wie eine ausführliche Schilderung ausgesehen hätte … In jedem Fall beweist Purtscheller damit, dass auch in einem harten Hund ein kleiner Romantiker stecken kann. 131 Jahre später kann man(n) das schon zugeben.

 

Text und Fotos: Uwe Grinzinger, Alpinjournalist & -fotograf, www.agentur-bergwerk.at

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