In den Sommern 2007 und 2008 ist in der Arktis besonders viel Eis geschmolzen. Das Schrumpfen und Dünnerwerden der Eisfläche bedrohen das Überleben der Eisbären. Die Weltnaturschutzunion IUCN sieht ihre Bestände gefährdet und hat den Eisbären in die Rote Liste aufgenommen.
Der Eisbär richtet sich auf. Er wittert. Hebt seine rechte Pranke, als ob er winken möchte. Eine ganze Weile verharrt er so. Er sieht uns aus dunklen Augen an. Und wir blicken auf ihn, regungslos. Er zuckt mit dem Kopf und lässt sich wieder auf seinen vier Beinen nieder. Er ist so nahe, dass wir die weißen Schneekristalle in seinem Fell sehen können, die Spiegelungen des Eises in seinen Augen, die kleinen Falten um seine dunkle Schnauze, die langen Krallen, die unter den weißen Zotteln an den Pranken hervorragen. So steht er da, im dünnen Silberlicht der Arktis. In einem Meer aus Eis, inmitten einer für uns Menschen lebensfeindlichen Unwirtlichkeit, in seinem Zuhause.
Es ist gut, dass wir auf einem sicheren Schiff sind, denn hinter dem Bären ist der Schnee rot gefärbt, haben sich Pfützen voller Blut gebildet. Schon überzieht sie eine dünne Eisschicht. Der Kadaver aber ist noch warm, dünne Dampfschleier steigen über den Rippen einer toten Robbe auf. Ein zweiter Bär reckt seinen blutigen Kopf in die Luft, reißt an den Resten des Tiers, leckt mit einer enormen Zunge über die Haut, dort, wo das meiste Fett zu finden ist, das den Bären schmeckt und sie am besten mit Nährstoffen versorgt.
Auf dem Schiff ist es still, auch wenn mehr als 50 Menschen an der Reling stehen. Nur Fotoapparate klicken, und dazwischen schnieft jemand, denn es ist kalt. Was der Bär so verwundert beobachtet und beschnuppert hat, ist ein russischer Atomeisbrecher, die Yamal, auf dem Rückweg vom Nordpol. Wahrscheinlich hat der Bär noch nie zuvor einen Eisbrecher gesehen, denn die Yamal reist nur wenige Male im Jahr mit Touristen und Wissenschaftlern an Bord zum Pol und zurück. Und falls der Bär den Brecher doch schon getroffen hat, weiß er, dass dieses große rote Ding ungefährlich ist, manchmal auch nach Essen riecht. Deswegen laufen die Bären nicht weg, sondern kommen ab und an sogar näher heran: ein Fest für die Fotografen, ein Fest für die Wissenschaftler nach manchmal tagelangem Ausharren an Deck und dem angestrengten Starren durch die Ferngläser auf der Suche nach Bären im Eis.
Jagd auf Eisbären
Doch nicht alle Schiffe sind für sie so ungefährlich wie die Yamal. Denn Eisbären werden noch immer gejagt. Vor allem Ureinwohner erlegen die Bären zur Eigenversorgung. In Kanada gibt es zwar in weiten Teilen Abschussquoten, aber in der Provinz Quebec, in Grönland und in Alaska dürfen Inuit sowie die Indianer in Ontario Eisbären ohne Einschränkungen töten. Das hat mittlerweile in Russland Begehrlichkeiten geweckt, das nun seinen Arktisanrainervölkern die Jagd auf Eisbären wieder erlauben will. In den bettelarmen Gebieten wie zum Beispiel Tschukotka ist ohnehin ein seit Jahren steigender illegaler Abschuss zu beobachten, der mit der Armut der Bevölkerung erklärt wird. Hinzu kommen die illegalen Trophäenjäger, die in allen Arktisanrainerstaaten zu finden sind.
Weltweit gibt es derzeit 19 Eisbärenpopulationen, die insgesamt etwa 22.000 Tiere umfassen. Jedes Jahr, so schätzt der World Wide Fund for Nature (WWF), werden 700 Eisbären erlegt. Zu viele, um den Bestand zu sichern, denn Eisbärenweibchen bekommen nur etwa alle drei Jahre ein bis drei Junge.
Eisschmelze drei Wochen früher
Doch längst ist der Mensch nicht mehr nur in direkter Weise der Feind des Eisbären. Jetzt ist er es auch in indirekter Form, und so steht eines der größten Landraubtiere der Welt nun, man könnte sagen, auf verlorener Scholle. Denn durch die Klimaerwärmung wird der Lebensraum der Bären beständig kleiner. In der kanadischen Hudson Bay zum Beispiel bricht das Eis mittlerweile jedes Jahr drei Wochen früher auf als noch in den 1970er Jahren. Das hat fatale Auswirkungen: Diese drei Wochen fehlen den Eisbären, um sich genug Speck anfressen zu können, den sie während der Zeit an Land dringend benötigen. Denn der Eisbär frisst am liebsten Robben, und diese fängt er auf dem Eis, nicht an Land. Wissenschaftliche Aufzeichnungen haben gezeigt, dass diese Verschiebung der Eisschmelze einen direkten Einfluss auf die Überlebenswahrscheinlichkeit der ein- bis vierjährigen und der mehr als 20 Jahre alten Bären hat. Die Zahl der Bärenpopulation in der westlichen Hudson Bay hat sich von 1200 in der Mitte der 1990er Jahre auf weniger als 1000 im Jahr 2004 verringert, in weniger als zehn Jahren also um mehr als 17 Prozent. Und die Bärenpopulation der Hudson Bay ist nur eine von fünf, von der man weiß, dass sie abnimmt.
Die Weltnaturschutzunion IUCN (International Union for Conservation of Nature an Natural Resources) rechnet als Folge der globalen Erwärmung mit einem weiteren Rückgang der Bestände und hat den Eisbären 2006 mit dem Status „gefährdet“ (vulnerable) auf die Rote Liste gesetzt, die mittlerweile 16.119 Tiere und Pflanzen umfasst.
Ohne Eis zu wenig Nahrung
2007 hat die Besatzung der Yamal erstmals einen Eisbären direkt am Pol gesichtet – obwohl man dachte, so weit würden die Tiere nicht wandern, weil dort zu wenig Nahrung zu finden ist. Doch das hat sich verändert – jetzt sind die Bären im letzten Rückzugsraum angelangt. Vielleicht aber reicht auch das bald nicht mehr – denn die Eisschmelze in der Arktis schreitet fort. Weil das Eis immer dünner wird, wurden bereits in den vergangenen Jahren mehr und mehr ertrunkene Bären gefunden – obwohl Eisbären exzellent und viele Kilometer weit schwimmen können.
Mitte September 2007 vermeldete die Europäische Weltraumorganisation ESA (European Space Agency), dass Satellitenbilder eine eisfreie Nordwestpassage vom Atlantik zum Pazifik zeigen, die auch für gewöhnliche Schiffe befahrbar ist. Auch im Sommer 2008 schrumpfte die arktische Eisfläche, und zwar bis auf 4,5 Millionen Quadratkilometer. Dies ist nach Angaben des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven nur unwesentlich mehr als die niedrigste jemals beobachtete Meereisausdehnung von 4,1 Mio. Quadratkilometern im Jahr 2007. Das langjährige Mittel liegt 2,2 Mio. Quadratkilometer höher. Die kommenden Sommer werden zeigen, ob dieser Trend anhält. Einige Wissenschaftler schätzen, dass die Arktis bereits zwischen 2040 und 2080 während der Sommermonate eisfrei sein könnte.
Der Eisbär aber kann ohne Eis nicht überleben, weil er von dort aus am besten Robben jagen kann. Der Eisbär ernährt sich fast ausschließlich von Robben: Er wartet an deren Luftlöchern, und wenn sie auftauchen, um zu atmen, schnappt er sie sich. Manchmal erschnuppert er auch eine Robbenhöhle unter dem Schnee, wirft sich mit seinem ganzen Körpergewicht auf sie und lässt den darunter liegenden Robben keine Chance zur Flucht; müsste der Eisbär aber immer auf diese Weise jagen, könnte er bei weitem nicht die Menge an Nahrung finden, die für sein Überleben notwendig ist.
Ein Zuwenig an Nahrung ist auch für den Nachwuchs folgenreich: Die trächtigen Weibchen graben sich rund einen Monat vor der Geburt in eine Schneehöhle ein, in der sie dann an die vier Monate mit ihren Jungen verbringen – ohne etwas zu fressen zu bekommen. Sie müssen sich daher vor dieser Zeit eine gute Fettschicht anfuttern, um ihre Jungen lange genug mit Milch versorgen zu können. Sonst müssen Mutter und Junge die Schneehöhle verlassen, bevor die Jungen für das Leben in der Arktis stark genug sind.
Die Passagiere der Yamal haben an diesem Tag Glück: Sie bekommen 15 Eisbären zu sehen. Die Bären geben eine Vorstellung, die selbst die Wissenschaftler an Bord begeistert. Zuerst wird ein Weibchen mit zwei einjährigen Jungtieren gesichtet. Die Mutter scheucht ihre Jungen übers Eis, und keines der drei Tiere schert sich groß um die Yamal, genauso wie zwei weitere Bären wenig später. Es wird Abend. Die Wasserstellen zwischen den Eisschollen sehen so aus, als hätte ein Goldschmied seinen Schmelztiegel auf einem weißen Tischtuch ausgeleert. Und inmitten dieser gold und weiß gleißenden Weite fressen nun ganz nahe sieben (!) Eisbären Robben und warten an Wasserlöchern auf weiteres Futter. Jungen balgen sich um die Robbenhaut, bekämpfen sich spielerisch auf einer Scholle, springen sich an, benehmen sich, als wüssten sie, dass nur wenige Meter entfernt ein sehr dankbares Publikum jede einzelne Bewegung gebannt beobachtet.
„Die Eisbären gehören zu unserer Welt“, so der Biologe Mikolaj Golachowski, der an Bord der Yamal Vorträge hält. „Wir müssen dafür Sorge tragen, dass sie auch in Zukunft überleben können und nicht aus Gründen, die wir zu verantworten haben, aussterben.“ Und wir, die auf der Yamal dem Schauspiel der Bären beiwohnen durften, können dem nur beipflichten.
Text von Birgit Lutz-Temsch, Fotos von Sepp Friedhuber