Ich hatte nicht besonders gut geschlafen, denn ein wenig nervös war ich schon. Am Abend war ich noch lange vor der Hütte gestanden und hatte auf die Nordabstürze des Glockners hinübergeschaut. Ein schöner, schroffer Berg mit seinen beiden Gipfeln, dem Klein- und Großglockner. Nur eine Seillänge unter der Glocknerscharte mündet eine steile Eisrinne in den Felsen der Gipfelpyramide. 600 m ist sie hoch, bis zu 55 Grad steil, doch von der Hofmannshütte aus wirkt sie senkrecht. Es ist die berühmte Pallavicinirinne, die in den 1960er-Jahren noch zu den großen Eisanstiegen der Ostalpen zählte; ihre Durchsteigung konnte man als alpine Gesellenprüfung verbuchen.
Nach dem Frühstück brach ich Richtung Biwakschachtel am Glocknerkamp auf, von dort waren es nur wenige Minuten hinüber zur großen Rinne. Von der Hofmannshütte waren es nur hundert Höhenmeter hinunter zur Pasterze, dem größten Gletscher der Ostalpen. Ich war tief beeindruckt von den Eismassen, die vom Johannisberg zu Tal flossen. Die Gletscherzunge reichte damals bis zum heutigen Sandersee hinunter. Nach der Durchsteigung der Pallavicinirinne ging es über den Hoffmannsweg zurück, und der Gegenanstieg zur Franz-Josefs-Höhe war nicht der Rede wert, obwohl ich schon ziemlich müde war.
Seit damals war ich sicher noch zehnmal am Glockner, doch immer von der Südseite, und so erlebte ich die Pasterze nur aus der Ferne.
Das Wetter ist traumhaft schön, und für den Ostalpenraum sorgt ein stabiles Hochdruckgebiet für eine längere Schönwetterperiode. Was ist naheliegender, als die Wanderschuhe in den Campingbus zu packen und Richtung Großglockner zu starten? Meine Frau ist gebürtige Gasteinerin, aber sie war noch nie im Glockner-Gebiet und kannte daher auch die Hochalpenstraße nicht. Eine gute Gelegenheit, diese Bildungslücke zu schließen. Das Befahren dieses Meisterwerks der Straßenbaukunst ist ein landschaftliches Erlebnis und führt durch den spektakulärsten Bereich des Nationalparks Hohe Tauern. Immer wieder laden hervorragend gestaltete Informationszentren zum Verweilen ein. In dem modernen Museum „Haus Alpine Naturschau“ am Obernassfeld unterhalb der Edelweißspitze wird die Ökologie des Hochgebirges ausgezeichnet vermittelt, und die Ausstellung „Kristalle - Schatz der Hohen Tauern“ präsentiert Fundstücke von einzigartiger Schönheit. Der Besuch des Museums ist eine perfekte Einstimmung auf den Besuch der Glockner-Gruppe.
Immer wieder entschleunigen mich diverse Aussichtspunkte wie die Edelweißspitze, mit dem ersten Blick zum Glockner-Gipfel, das Fuscher Törl und das Hochtor. Meine Kamera ist permanent mit dem Speichern von Bildern beschäftigt. Tage wie diese muss man nützen!
Am Nachmittag landen wir auf der Franz-Josefs-Höhe. Hier herrscht reges Treiben. Wo die Parkplätze beginnen, ist ein ruhiger Stellplatz für Wohnmobile und Campingbusse ausgewiesen; dort errichten wir unser Basislager für die nächsten Tage.
Am Nachmittag wandern wir den Gamsgrubenweg Richtung Hofmannshütte* und Oberwalderhütte hinauf, und ich hoffe, dass ich ein paar Steinböcke vor die Linse bekomme. Doch es ist zu heiß. Die prächtigen Tiere haben sich auf den luftigen Grat des Fuscherkarkopfs zurückgezogen. Sie sind nur mit dem Fernglas zu erkennen. Doch die Murmeltiere, die an Menschen gewöhnt sind und mich auf Fotodistanz heranlassen, sind ein willkommener Ersatz.
Was mich aber besonders in den Bann zieht, ist der Blick auf die Pasterze. Ich kenne zwar Bilder und Filmdokumente über den Rückgang der Gletscher, aber die Realität ist trotzdem ernüchternd. Von der Hofmannshütte, die einst am Gletscherrand gestanden ist, sind es mindestens 300 Höhenmeter hinunter zu dem, was von der Pasterze übrig geblieben ist. Wie sich die Gletscherlandschaft in einer für mich überschaubaren Zeit verändert hat, ist beeindruckend. Der Klimawandel lässt grüßen, deutlicher geht es nicht.
Der jüngste Gletscherbericht des ÖAV weist für die Pasterze den Negativrekord für 2012 aus: 97,3 m Rückgang und ein Verlust von 4,6 m Eisdicke. Damit hat sich die Pasterze von allen ostalpinen Gletschern am stärksten zurückgezogen.
Auf meinen vielen Reisen in die Arktis erlebe ich die Veränderungen der Eisverhältnisse von Jahr zu Jahr, und auch die Alpen sind einem dramatischen Wandel unterzogen. Begibt man sich jedoch auf eine Zeitreise in die jüngere Erdgeschichte, sieht man die heutige Größe und Ausdehnung der Gletscher realistischer. Seit der letzten Eiszeit, die vor 12.000 Jahren zu Ende ging, gab es einen ständigen Wechsel von kleineren Warm- und Kaltzeiten. Vor 7000 bis 3500 Jahren war die Pasterze noch wesentlich kleiner als heute. Immer wieder schmelzen Torf und Holzstücke aus dem Gletschereis, die beweisen, dass es damals wesentlich wärmer war. Das markanteste Fundstück ist ein 7000 Jahre alter Zirbenstamm mit 200 Jahresringen.
Nur selten war die Pasterze größer als jetzt, ihre maximale Ausdehnung erreichte sie 1856, als sie bis zum Margaritzenstausee hinunterreichte. Seither hat sie sich wieder auf die postglaziale Durchschnittsgröße reduziert. Wann dieser Trend gestoppt wird oder sich gar umkehrt, wissen die Götter …
Zurück zur Franz-Josefs-Höhe. Es ist ruhig geworden, ich habe das Stativ aufgestellt und fotografiere Sternenbilder mit dem Glockner, und in der Früh bin ich schon lange vor Sonnenaufgang draußen, um den Berg im ersten Morgenlicht auf den Chip zu bannen.
Nach dem Frühstück schnüren wir die Wanderschuhe. Der Gletscherweg Pasterze steht auf dem Programm. Wir starten auf der Franz-Josefs-Höhe und gehen den Pfad hinunter mit Endstation Glocknerhaus, denn ich möchte viel Zeit fürs Fotografieren haben. Die erste Etappe führt vom Parkplatz hinunter zur Talstation der Gletscherbahn. Diese wurde 1963 eröffnet; die Talstation war damals nur wenige Meter vom Gletscherrand entfernt. Heute sind es mindestens 200 Höhenmeter und eine beachtliche horizontale Distanz, bis man das Eis erreicht. Wir sind ganz alleine unterwegs, nur einige Murmeltiere pfeifen links und rechts aus ihren Löchern.
Massentourismus und beschauliches Naturerlebnis liegen nur wenige Meter und Gehminuten auseinander.
Im naturkundlichen Führer „Gletscherweg Pasterze“ findet man auf verständliche Weise erklärt, was es entlang des Weges zu sehen gibt. An markanten Stellen sind Haltepunkte ausgewiesen, und man entdeckt geologische, botanische und glaziologische Besonderheiten, und der Blick auf die Nordostseite des Glockners zählt zu den schönsten Bergkulissen des gesamten Alpenraums. Mit dem Fernglas kann man die Gipfelaspiranten beobachten, wie sie von der Adlersruhe über das Glocknerleitl, den Kleinglockner und über die Scharte zum Gipfel steigen.
Vom Haltepunkt 8 sieht man besonders gut, wie der Gletscher zerfällt und sich das Landschaftsbild ändert. Der Kleine Burgstall (2713 m) galt bis vor wenigen Jahren als Paradebeispiel für einen Nunatak. Dieser aus der Sprache der Inuit stammende Begriff bezeichnet einen Felsgipfel, der auf allen Seiten von Eis umschlossen ist. Inzwischen trifft der Begriff nicht mehr zu: Das Eis auf der Ostseite ist verschwunden.
Wir sind am Pasterzengrund angekommen. Der Glockner-Gipfel spiegelt sich in einem kleinen Gletschersee. Wo der Boden vor wenigen Jahren noch mit Eis bedeckt war, treiben nun schon die ersten Pionierpflanzen aus. Es sind vor allem Steinbrechgewächse, weil diese keinen Humus zum Wachstum benötigen und auch Felsritzen und Nischen besiedeln. Die Farben der Hochgebirgspflanzen sind meist sehr intensiv, denn um die wenigen Insekten, die in diese extremen Lebensräume vordringen, muss aggressiv geworben werden. Pflanzen in diesen Höhenlagen haben nur sehr kurze Vegetationsperioden: Der Winter endet erst im Juni, dann ist es zwei Monate lang Sommer, und im September beginnt bereits der Winter. Daher bleibt nur kurze Zeit zum Austreiben, zum Blühen und für die Samenproduktion. Viele sind Frostkeimer, sie benötigen längere Frostperioden, um junge Pflanzen zu bilden. Damit schützen sich die Pflanzen davor, dass sie nach herbstlichen Schönwetterperioden irrtümlich austreiben und die jungen Triebe vom Frost vernichtet werden. Zu dieser Gruppe gehören Gletschermohn und Enziane.
Weiter talauswärts wandern wir entlang des Gletscherbaches. Das Wasser ist trübe, weil er große Mengen an Sedimenten mit sich führt. Durch die Fließbewegungen des Gletschers werden Gesteine fein zerrieben und lagern sich weiter unten in den sogenannten Sandern als feiner Schlamm ab. Fließt der Bach in einen See, färbt er diesen milchig weiß, daher der Name Gletschermilch. An schönen Tagen leuchtet das Wasser wegen des reflektierten blauen Himmels in herrlichem Türkis.
Geologisch gesehen, wandern wir im sogenannten Tauernfenster. Zwischen Brenner und Katschberg wurden die ursprünglich oben liegenden jungen Gesteine durch Erosion abgetragen, und die geologisch alten Formationen ragen durch das „Fenster“ an die Oberfläche. Die hohen Gipfel, wie der Glockner, bestehen aus umgewandelten basaltischen Tiefengesteinen, den Prasiniten oder Grünschiefern. Diese sind noch vor der Alpenfaltung im Erdmittelalter (vor 252-66 Mio. Jahren) am Boden des Penninischen Ozeans entstanden und wurden im Zuge der tektonischen Überschiebungen herausgehoben. Prasinite sind wesentlich witterungsbeständiger als die umliegenden Schiefer, daher hat sich der Glockner seine schroffe Form bewahrt. Entlang des Weges sehen wir immer wieder schöne Felsformationen, Gletscherschliffe, Gletschermühlen und Gletschertöpfe, deren Entstehung aus jener Zeit stammt, als hier alles noch von Eis bedeckt war. Über eine Felsstufe wandern wir hinunter zum Sandersee. In der Mitte des vorigen Jahrhunderts reichte der Gletscher noch bis hierher. An der schütteren Vegetation der Seitenmoräne sieht man die ursprüngliche Mächtigkeit des Gletschers. Allmählich erobert sich die Vegetation die Lebensräume wieder zurück. Der Sandersee ist ein mit Sedimenten gefülltes Becken. Bei geringer Wasserführung im Sommer trocknet er aus. Eine Geländestufe tiefer liegt der Margaritzenstausee. Jahr für Jahr gelangen 25.000 Kubikmeter Schwebstoffe in den See, und inzwischen hat sich das Speichervolumen massiv reduziert. Von 1958, als sich erstmals ein kleiner Wassertümpel bildete, bis 1995 war der Sandersee das Auffangbecken für 650.000 Kubikmeter durch Gletscherschliff entstandene Sedimente.
Beim Überqueren der Staumauer begreift man erst die Dimension des Gletscherrückganges. 1856 reichte die Pasterze bis hierher und endete mit einem spektakulären Gletscherbruch. Heute liefert der Stausee einen wesentlichen Anteil für die Wasserversorgung der Kraftwerkskette Mooserboden - Kaprun. Das Wasser fließt durch einen 11 km langen Stollen durch den Tauernhauptkamm zum Speichersee Mooserboden. Die Errichtung der Kraftwerke war in der Nachkriegszeit ein wesentlicher Bestandteil der industriellen Entwicklung Österreichs. Die Folgen wurden aber später immer kritischer gesehen, weil mit der Ableitung der Gewässer gravierende ökologische Veränderungen verbunden sind. Die Interessen der E-Wirtschaft und jene der Umweltbewegungen prallten bei der Errichtung des Nationalparks Hohe Tauern aufeinander. Die Auseinandersetzung gipfelte im Konflikt um die Kraftwerkspläne im Dorfertal, in den auch die Naturfreunde mit Bundespräsident Dr. Heinz Fischer an der Spitze stark involviert waren.
Im Glocknerhaus endet unsere Wanderung durch die jüngere Klimageschichte der Ostalpen mit einem kühlen Trunk.