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Auf den Spuren der Luchse

Der Nationalpark Kalkalpen schützt das größte zusammenhängende Waldgebiet Österreichs und lässt die Wildnis Stück für Stück zurückkommen. Baummethusalems, charismatische Raubkatzen, röhrende Hirsche und vieles mehr tummeln sich in diesem Eldorado für all jene, die sich zu den zeitvergessenen Naturliebhaberinnen und -liebhabern zählen.

Text und Fotos: Christine Sonvilla und Marc Graf

 

Nirgendwo in Österreich ist man Luchsen so nahe wie hier. Zu Gesicht bekommen wird man die getupften Raubkatzen dennoch wohl kaum. Aber wer es gar nicht erst versucht, wird es nie erfahren. Deshalb wandeln wir auf ihren Spuren, in einer der wildesten Ecken Österreichs: im Nationalpark Kalkalpen, der seit 1997 auf einer Fläche von knapp über 200 km2 das größte zusammenhängende Waldgebiet Österreichs schützt. Drei Viertel davon gelten als Wildnis bzw. dürfen sich langsam in Richtung Wildnis entwickeln. Das ist einzigartig in Österreich. Wo sich so viel Raum für Natur auftut, finden sich auch zahlreiche Pflanzen- und Tierarten, konkret sind das 1000 verschiedene Blütenpflanzen, 1500 Schmetterlingsarten, 80 Brutvogel- und 50 Säugetierarten. Zu letzteren zählen auch die Rückkehrer der vergangenen Jahrzehnte wie Biber, Fischotter und Luchs.

 

 

Viele Wander-, Rad- und Reitwege

Wer in dieses Artenmekka Österreichs eintauchen möchte, dem stehen im und um den Nationalpark 100 km Wander- sowie 500 km Rad- und Reitwege zur Verfügung. Man hat hier also die sprichwörtliche Qual der Wahl, aber es gibt auch ein paar Orientierungshilfen. In den Kalkalpen muss es nicht immer hoch hinauf gehen, oft führen Wege am Fuße der Berge entlang, durch eine Schlucht oder den Wald. Weniger alpine Technik, Raffinesse und Kondition sind gefragt als vielmehr Entdeckerfreude, wache Sinne und Achtsamkeit. Die Naturerfahrung steht im Vordergrund und kann sich auch auf kleinen Wandertouren erschließen. Speziell im Herbst, wenn die bunt verfärbten Blätter der Buchen immer wieder zum bestaunenden Verweilen einladen, rücken Weg- und Zeitangaben oft in den Hintergrund.

 

Ganz pragmatisch stellt sich dennoch die Frage: Sengsengebirge oder Reichraminger Hintergebirge? Beide Gebirgsstöcke zählen zu den Kalkalpen, und beide haben ihren Charme. Eine klassische Pattsituation, die sich aber ganz einfach, nämlich Schritt für Schritt, lösen lässt.

 

Von Boding zu Boding

Am besten beginnt man in einem der schönsten und markantesten Talschlüsse des Nationalparks Kalkalpen, im Bodinggraben. Von Molln etwa 20 km über die Breitenau erfolgt die Zufahrt bis zum Parkplatz Scheiblingau. Von dort folgt man 1,7 km dem Bachlauf der Krummen Steyrling, wandert durch üppige Schluchtwälder voller Hirschzungenfarne, hübscher Mondviolen und filigranem Waldgeißblatt und bekommt einen ersten Eindruck von der Vielfalt der Kalkalpen. Der Name Bodinggraben kommt nicht von ungefähr. Der Untergrund besteht aus weichen Gesteinen, in die sich der Bach tief eingräbt. Dabei stößt er immer wieder auf harten Kalkriff, weshalb das Wasser von einem Steinbottich, also einem „Boding“, zum nächsten rinnt. Bei der Jausenstation Jagahäusl angekommen ist der Entdeckerdrang meist noch nicht gestillt. Deswegen bietet es sich an, zur unbewirtschafteten Blumaueralm entlang des Blöttenbachs weiterzuwandern. Hin und retour bis Scheiblingau muss man ca. 3 Stunden Gehzeit anberaumen, im Herbst vermutlich mehr.

Mitte September bis Anfang Oktober gibt es die Möglichkeit, gemeinsam mit Nationalpark-Rangern die Hirschbrunft mitzuerleben. Wenn die Dämmerung hereinbricht, hallt der Talkessel vom Röhren der kapitaleren Hirsche wider. Die reine Gehzeit der „Hirschlos’n“-Tour beträgt 2,5 Stunden.

Die Blumaueralm liegt direkt unter den felsigen Nordabstürzen des Sengsengebirges, dessen Name sich von der ehemaligen Nutzung der Wälder als Energielieferant für die hier einst zahlreichen Sensenschmieden herleitet. Die höchste Erhebung bildet der Hohe Nock (1963 m). Von der Blumaueralm, die auf 762 m Seehöhe liegt, ist das noch ein gutes Stück entfernt. Aber wenn die Wanderstöcke nicht innehalten wollen, sollten sie der Forststraße weiter in Richtung Feichtau folgen. Hier wandelt sich rasch das Landschaftsbild, die „geordnete“ Alm geht in von Lawinenabgängen geprägte Waldabschnitte über, umgefallene Bäume säumen den Weg, es wird urwüchsiger, und ein wenig Kondition für den steiler werdenden Steig ist nun doch auch gefragt. Kleinere Weiher und Tümpel tauchen mit der Zeit auf, in denen vor allem im Frühjahr zahlreiche Amphibien umherwuseln. Aber selbst im Herbst, wenn die Herbstwanderung der Lurche beginnt, stehen die Chancen gut, Erdkröten, Grasfrösche oder Bergmolche zu erspähen.

 

Will man im Rahmen einer weiteren Tour den Aufstieg zum Hohen Nock in Angriff nehmen, bietet sich die Feichtauhütte (1360 m), eine Selbstversorgerhütte des Alpenvereins, als Ausgangspunkt an. Man kann aber auch ohne Gipfelsturm auf dieser Alm die Natur ringsum genießen, und das mitunter völlig allein, denn nur wenige Wandernde nehmen den Weg bis hierher auf sich. Nun hat man auch Muße, um nach Luchsspuren Ausschau zu halten. Sie sehen jenen der Hauskatze sehr ähnlich, sind allerdings mit fünf bis zehn Zentimetern Durchmesser deutlich größer geraten. Krallen lassen sich in der Regel nicht ausmachen, dafür fällt auf, dass die vier Zehenballen versetzt zueinander stehen.

Seit 1999 gibt es im Nationalpark Kalkalpen ein kleines Luchsvorkommen, begründet zunächst durch einen einzelnen umherstreifenden Luchs. Die Arbeitsgruppe LUKA (Luchs Kalkalpen) entschloss sich, der Raubkatze unter die Arme zu greifen, und entließ zwischen 2011 und 2013 insgesamt drei aus der Schweiz stammende Luchse. Die Freilassungen zeigten rasch Wirkung. 2012 gab es in der Region erstmals seit über 150 Jahren wieder Luchsnachwuchs. Leider gab es auch Rückschläge zu beklagen, zwei Luchse wurden in den vergangenen Jahren illegal getötet. Die Verluste ließen sich aber „kompensieren“, weil im März 2017 ein weiteres Luchsmännchen und eine Luchskatze ebenfalls von der Schweiz in den Nationaklpark Kalkalpen übersiedelten.

 

Ins Waldmeer eintauchen

Für die aparten Katzen ist es eine Kleinigkeit, zwischen Sengsengebirge und Reichraminger Hintergebirge hin und her zu wechseln. Für Wandernde stellt es schon eine größere Herausforderung dar. Es darf nun etwas mehr Gepäck sein, ausreichend Verpflegung und Trinkwasser, Schlafsack und Isomatte, Zelt, Regenschutz, wetterfeste, warme Kleidung, und auch eine Taschenlampe kann nicht schaden. So ausgerüstet steht einer Übernachtung im Freien nichts im Wege. Möglich ist das im Nationalpark an zwei ausgewiesenen Biwakplätzen. Wir peilen den Biwakplatz Weißwasser an, der etwa 13 Zwei-Personen-Zelten Platz bietet und zu Fuß oder besser noch mit dem Drahtesel etwa von Reichraming aus am idyllisch verlaufenden Hintergebirgsradweg (23 km Wegstrecke) zu erreichen ist.

 

Das Reichraminger Hintergebirge lässt das Herz aller Wildnisliebhaberinnen und -liebhaber höher schlagen, zählt es doch zu den größten geschlossenen Waldgebieten Österreichs, das weitgehend unbesiedelt und frei von öffentlichen Verkehrswegen ist. Das Mini-Alaska Mitteleuropas sozusagen. Und was der Yukon für Alaska, ist der Große Bach für das Hintergebirge. Er durchfließt den zentralen Teil und wird im Unterlauf auch als Reichraming bzw. im Oberlauf als Schwarzer Bach bezeichnet. In jedem Fall zählt der Fluss, auf dem früher Holz geflößt wurde, zum längsten unversehrten Bachsystem der Ostalpen. Noch heute erinnern alte Klausen und verfallene Triftsteige an die einstige Holznutzung. Mittlerweile stehen die Wälder des Hintergebirges unter Schutz, und man kann hier zahlreiche Schluchten und Gräben entdecken, welche die Bäche ins Gestein gegraben haben.

 

Zentraler Anziehungspunkt ist die vom Großen Bach gebildete gleichnamige Große Schlucht. Der engste und interessanteste Abschnitt der Schlucht findet sich zwischen dem Schleierfall und dem Annerlsteg und erfordert Trittsicherheit. Der Triftsteig, ein 2,2 km langer Klettersteig, der als leicht gilt, verläuft entlang des östlichen Bachufers, ist stellenweise ausgesetzt und durch querführende Wasserläufe mitunter rutschig, bietet aber knapp über dem Bach verlaufend spannende Perspektiven. Für all jene, die lieber mehr Boden unter den Füßen haben, sei der Weg über den Annerlsteg zur ehemaligen Annerlalm empfohlen, von wo aus man immer wieder herrliche Blicke in die 200 m tiefer liegende Große Schlucht erhaschen kann.

 

Wer mit offenen Augen das Hintergebirge erkundet, stößt speziell in feuchten, dunklen Ecken möglicherweise auf tierische Individualisten wie die pechschwarzen Alpensalamander oder auf pflanzliche Methusalems. Das Reichraminger Hintergebirge ist u. a. die Heimat der ältesten Rotbuche der Ostalpen, die bald stolze 530 Lenze zählt. Die alte Lady steht allerdings gut geschützt in einem der Buchen-Urwaldbereiche des Nationalparks, die von der UNESCO 2017 gemeinsam mit den Buchenwäldern im Wildnisgebiet Dürrenstein zum ersten Weltnaturerbe Österreichs erklärt wurden. Zu ausgewählten Terminen – Anfang Oktober gibt es die nächsten zwei Möglichkeiten – nehmen Nationalpark-Ranger naturinteressierte Wandernde zu diesen besonderen Flecken mit und gewähren noch tiefere Einblicke in die Waldwildnis der Kalkalpen.

 

Die Wildnis wächst

Damit Wildnis entstehen kann, vor allem dort, wo Wälder einst intensiv genutzt wurden, braucht es Zeit und noch mehr Zeit sowie Freiheit von menschlicher Nutzung. Weder Holzeinschlag noch intensive Freizeitaktivitäten oder andere Interventionen sind für den Wildnisprozess zielführend. Das sorgt mitunter für Unverständnis oder sogar Unmut. De facto haben wir aber alle mehr von der Natur, wenn wir ihr Ruheräume zugestehen. Die Rückzugsgebiete sind es nämlich, in denen sich die Artenvielfalt erholen und sich von dort aus wieder verbreiten kann. Momentan gibt es im Nationalpark Kalkalpen sechs Luchse, eine der Luchsinnen führt sogar wieder ein Jungtier. Gut möglich also, dass beim Wandern auch einmal ein Lottosechser gelingt, eine Luchssichtung. Bis dahin darf die Wildnis weiter eifrig wachsen.

 

 

Bodinggraben mit Blick auf das Sensengebirge
Schleierfall
Weitere Informationen

Christine Sonvilla und Marc Graf studierten beide Biologie und sind bereits seit mehreren Jahren im Auftrag des Nationalparks Kalkalpen unterwegs sind, um die Waldwildnis fotografisch einzufangen.

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