Am 18. Oktober 2025 suchten im Rahmen des 6. Internationalen Lawinensymposiums Wissenschafter*innen, Schitourenguides und Freizeitsportler*innen nach Antworten, wie verantwortungsvolles Handeln im winterlichen Gelände gelingt.
Text: Christine Moser, freie Journalistin in Graz, Fotos: Martin Edlinger, Naturfreunde Österreich
2015 riefen die Naturfreunde Österreich und GeoSphere Austria das Internationale Lawinensymposium ins Leben und eröffnen damit seither alle zwei Jahre in den Grazer Arbeiterkammersälen den Schitourenwinter. Zum sechsten Mal fand das Lawinensymposium am 18. Oktober 2025 statt. In den fünf Ausgaben davor sei viel Wertvolles angeregt worden, erinnerten Naturfreunde-Bundesgeschäftsführer Mag. Günter Abraham und Mag. Bernhard Niedermoser, Direktor Meteorologie und Regionalstellen der GeoSphere Austria, eingangs gemeinsam mit Moderator Mag. Andreas Jäger. Ein Beispiel dafür ist die Umstellung des täglichen Lawinenlageberichts: Statt wie früher am Morgen wird dieser nun bereits am Abend veröffentlicht – ein klarer Gewinn, da Touren am Vorabend geplant werden. Das Thema Klimawandel hat in den vergangenen zehn Jahren zunehmend Forschung und Praxis im Lawinenbereich geprägt, jetzt hält auch künstliche Intelligenz Einzug. „Das Symposium ist heute die bedeutendste Fachveranstaltung zum Themenkreis „Mensch, Lawine, Klimawandel, Katastrophenschutz im deutschsprachigen Raum“, betonte Niedermoser.
Diese Mischung aus wissenschaftlicher Tiefe und praktischer Relevanz lockte wieder rund 500 Gäste – von Lawinenexpertinnen und -experten über Bergführer*innen bis hin zu Freizeitsportler*innen – nach Graz. Mit 36 Fachvorträgen und sechs Workshops war das Programm so umfangreich wie noch nie. Es herrschte die sprichwörtliche Qual der Wahl.
Einen eindrucksvollen Zugang wählte Univ.-Prof. Dr. Dr. Bernd Rieken, Leiter des Instituts für psychoanalytisch-ethnologische Katastrophenforschung an der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien. Er untersuchte, wie die Lawinenkatastrophen von Galtür 1999 und Blons 1954 von der Bevölkerung erlebt und verarbeitet wurde. In Galtür, wo 31 Menschen ihr Leben verloren hatten, sprach Rieken 2008 mit Betroffenen, Helferinnen und Helfern sowie Ortsvertreterinnen und -vertretern. Viele berichteten, dass sie ihr Leben seither bewusster führen und ihr soziales Netz gestärkt wurde. Unterschiedliche Weltanschauungen – ob religiös oder ökologisch – gaben den Menschen Sinn und halfen, das Erlebte einzuordnen.
In Blons, wo 1954 ganze Ortsteile zerstört und 125 Menschen getötet wurden, fehlte diese Möglichkeit: Über solche Ereignisse zu sprechen war damals, knapp nach dem Krieg, noch tabu. Riekens Fazit: „Das Gespräch ist die wichtigste Form der Verarbeitung – und eine Sinnperspektive hilft, mit solch traumatischen Ereignissen umzugehen.“
Daran knüpfte Cornelia Forstner, M. A., M. Sc., DSA, Leiterin der Koordinationsstelle Krisenintervention des Landes Steiermark, an. Sie zeigte am Beispiel eines Lawinenunfalls im Jahr 2005, wie psychosoziale Akuthilfe Menschen nach traumatischen Erlebnissen stützt. Stressreaktionen, erklärte sie, zeigen sich auf kognitiver, körperlicher, emotionaler und Verhaltensebene – von Gedächtnisstörungen über Sprachprobleme bis hin zu Orientierungslosigkeit.
Wichtig sei es, in den ersten Stunden psychische Erste Hilfe zu leisten: da sein, zuhören, Orientierung geben. „Schon das Gefühl, dass jemand da ist, hilft enorm“, so Forstner. In der Folge sei für die Betroffenen der Zugang zu verlässlichen Informationen von zentraler Bedeutung. Auch die Einsatzkräfte brauchen Nachbetreuung, erläuterte die Expertin. Ihre Botschaft: Zuwendung, Information und Nachsorge sind zentrale Elemente, um nach Extremerlebnissen psychische Stabilität zu bekommen.
Mag. Walter Würtl, Alpinwissenschafter, Berg- und Schiführer sowie Experte des Österreichischen Kuratoriums für alpine Sicherheit, nahm Lawinenunfälle bei geführten Touren unter die Lupe. Während im freien Gelände Eigenverantwortung gilt, tragen Führer*innen besondere Verantwortung: „Sicherheit ist Teil ihres Leistungsversprechens.“
Die Statistik zeigt: 82 Prozent aller Menschen, die bei einem Lawinenunglück ums Leben kommen, waren ohne Führer*in unterwegs, 18 Prozent in einer geführten Gruppe. „Das ist zu viel, damit kann man nicht zufrieden sein“, betonte Würtl. In den letzten 20 Jahren (2006-2025) gab es in Österreich bei geführten Touren 71 Todesopfer, 40 davon starben bei Lawinenwarnstufe 3, also bei erheblicher Gefahr. Sein Appell an die Berufsgruppe: „Wir müssen defensiver agieren – wie Busfahrer*innen, nicht wie Rennfahrer*innen.“ Standardmaßnahmen wie gewissenhafte Planung, das Einhalten von Abständen und offene Kommunikation müssten konsequent umgesetzt werden. Außerdem brauche es das Bewusstsein, dass Lawinengefahr oft unsichtbar bleibt und sich nicht allein durch Methoden oder Zahlen bannen lässt.
Wie sich die Erderwärmung auf Schneedecke und Wintersport auswirkt, zeigte der Experte Aleš Poredoš von der Slowenischen Umweltagentur (Agencija Republike Slovenije za okolje, ARSO). Seine Daten zur Schneebedeckung in den slowenischen Alpen unter 1200 Metern Seehöhe (der bekannte Schiort Kranjska Gora etwa liegt auf rund 800 Metern) sprechen eine klare Sprache: Im Vergleich der Zeiträume 1950–1980 und 2000–2025 sind die Schneehöhen um ca. 50, die Tage mit Schneebedeckung um rund 40 und die Schneefälle um etwa 35 Prozent gesunken. „Die Niederschlagsmengen bleiben zwar gleich, aber der Schnee wird zu Regen“, fasste Poredoš zusammen. Prognosen bis 2100 zeigen je nach Emissionsszenario, dass sich im Bestfall die Lage ab etwa 2060 stabilisieren könnte – während sich im Worst-Case-Szenario die derzeitige Entwicklung deutlich beschleunigen würde. Ein Weckruf für alle, die den Wintersport lieben.
Wie beeinflussen Lawinensituation und Geländefaktoren die Tourenwahlen und die Hangeinschätzung von Schitourengruppen? Dieser Frage gingen Dr. Martin Schwiersch, Berg- und Schiführer sowie Psychotherapeut, und die Psychologin Michaela Brugger, M. Sc., nach. Untersuchungen zeigen: Gruppen planen zwar meist vernünftig, übersehen aber unterwegs oft Gefahrenstellen.
Die beiden Vortragenden betonten, wie wichtig ein gemeinsames mentales Bild ist: Alle sollten dasselbe unter Begriffen wie „entscheidungsrelevante Stelle“ oder „Gefahrenstelle“ verstehen. Eine klare gemeinsame Sprache hilft, Risiken früh zu erkennen. Digitale Karten, die Gefahrenzonen visualisieren, können ebenfalls unterstützen – etwa Anwendungen wie Skitourenguru, die Lawinenlageberichte und Hangneigungen kombinieren.
Für die Freizeit-Schitourengeher*innen besonders praxisrelevant: Die Workshops – wie jener von Bergsportler DI Matthias Pilz, B. Sc., der u. a. als Ausbildner für die Bereiche Klettern, Hoch- und Schitouren tätig ist, zur digitalen Tourenplanung. Mit anschaulichen Beispielen und Demonstrationen zeigte der Naturfreunde-Experte, warum digitale Planung heute zwar sehr hilfreich ist, man aber auch die Risiken erkennen muss. Pilz führte vom Kartenverständnis zur konkreten Tourenplanung am Bildschirm über. Besonders eindrücklich warnte er anhand eines realen Beispiels davor, digitalen Routenvorschlägen blind zu vertrauen: Ein im Netz gefundener Track hätte Sportler*innen in ein Absturzgelände geführt.
Seine praktischen Tipps: mehrere Kartenquellen nutzen, Routen immer selbst nachzeichnen, das Gelände kritisch prüfen. Der Planungsprozess sollte aus einer umfassenden Recherche und der Detailplanung bestehen. Nach der Schitour sollte man reflektieren, wie diese im Vergleich zur Planung verlaufen ist. Pilz’ Credo: Digitale Tools sind wertvolle Helfer, ersetzen aber weder Erfahrung noch das eigenständige Mitdenken. „Tourenplanung kann nur so gut sein wie die Daten, mit denen wir planen“, so das Fazit.
Wer Karten lesen, Beobachtungen deuten und während der Tour flexibel reagieren kann, hat einen entscheidenden Sicherheitsvorsprung. Genau darum ging es bei diesem Symposium: Erkenntnisse aus Wissenschaft und Praxis so zu vermitteln, dass sie im Gelände Leben retten können.
6. Internationales Lawinensymposium
Das alle zwei Jahre stattfindende Internationale Lawinensymposium der Naturfreunde Österreich und GeoSphere Austria ging am 18. Oktober 2025 in den Grazer Arbeiterkammersälen zum sechsten Mal über die Bühne. 36 Fachvorträge und sechs Workshops von Expertinnen und Experten aus Österreich, Deutschland, der Schweiz, Slowenien und der Slowakei gaben ein umfassendes Bild der aktuellen Entwicklungen rund um Lawinenkunde und Sicherheit im freien Gelände. Wer sein Wissen vertiefen und nachlesen möchte, was im Rahmen des Lawinensymposiums alles thematisiert wurde, kann den 200-seitigen Tagungsband kostenlos downloaden >